Am Sonntag, dem 5.Mai 2002 fand im Hamburger Hauptbahnhof das erste "Radioballett" der Redaktion von Lignas Music Box [1], einer Musiksendung auf dem Freien Sender Kombinat Hamburg statt. Bereits seit Wochen kursierten die entsprechenden Emails und wurden die Jingles auf FSK abgespielt, um möglichst viele Leute gleichzeitig an diesen Ort zu bekommen, der wie kein anderer in der Hansestadt das Paradebeispiel für die hemmungslose Privatisierung öffentlicher Räume und die damit einher gehende Exklusion unliebsamer Bevölkerungsschichten im Sinne des Bahnhofsmanagements darstellt.
Den im Hauptbahnhof für jeden Passanten offensichtlichen Sicherheitswahn (9 verschiedene Sicherheitsdienste, 150 Überwachungskameras, unzählige Schilder, die das Sitzen, Stehen, Aufhalten verbieten) thematisierten bereits künstlerisch-politisch agierende Formationen wie z.B. die Gruppe Urbane Panik mit ihrer 2001 durchgeführten Sicherheitsdienst-Persiflage "Sicherheit jetzt" [2]. Ob solche parodistischen Aktionen gegen den Sicherheitswahn taugen, oder ob sie gar sie gar die allgemeine Hysterie vorantreiben, ist sicherlich einer der kritisch zu reflektierenden Aspekte solcher Aktionen, ein anderer ist jedoch ganz einfach die rein personell bedingte Begrenzung des Aktionsradius auf einen kleinen Teil des Hauptbahnhofs, verbunden mit einem recht hohen Risiko juristischer Folgen für die Beteiligten.
Lignas Konzept, als "Rundfunkballett" oder "Maoistisches Ballett" betitelt, geht von einer anderen Seite an das Thema heran: nicht eine durch wenige Beteiligte durchgeführte Aktion, die mit schauspielerischer Überzeugung und einem hohen Grad an Erfolgsrisiko den Usus der Sicherheitsdienste - kontrollieren, überwachen, rauswerfen - persifliert, sondern eine "Übung in unnötigem Aufenthalt", die Streuung möglichst vieler Menschen und die Wiederholung einfacher und deutlicher Gesten, aus denen der zwiespältige Charakter des Verbotenen ersichtlich werden soll. So heißt es im Ankündigungsschreiben:
Wohl wahr: eine Demo ist im Hauptbahnhof nicht praktisch, sinnvoll oder überhaupt möglich, und tatsächlich strengte die Deutsche Bahn AG mit Hinweis auf das Hausrecht ein Verbot gegen das Radioballett an, welches jedoch netterweise und in letzter Sekunde vom Landes- und in der Revision vom Oberlandesgericht abgewiesen wurde (Gerüchten zufolge ist das Fax vom Gericht mit der schriftlichen Erlaubnis erst am vergangenen Freitag um 16.58 Uhr! bei den Verantwortlichen von Lignas Music Box eingegangen).
Und wie geplant konnte das Ballett dann auch statt finden: Sonntag ab 14 Uhr wurden über FSK die "Anweisungen" gesendet, die verteilte Menge im Hauptbahnhof empfing diese durch Taschenradios und Kopfhörer und führte sie gelassen und ungerührt aus. Auf einmal wurde also klar, wie viele Menschen tatsächlich an der Aktion teilnahmen - überall auf den Bahnsteigen, in der Wandelhalle, auf den Treppen führten junge Menschen die selben einfachen Bewegungen aus. Arme ausbreiten, nach oben zeigen, Schuhe zubinden, auf den Boden setzen, die Hand ausstrecken, Tanzen oder "dem abfahrenden Zug der Revolution hinterher winken", wie Ligna das Auspacken und Flattern lassen der von den Teilnehmern mitgebrachten roten Tücher betitelte.
Etwa eine Stunde lang bewegte sich das Ballett im Hauptbahnhof, eine sehr entspannte und fröhliche Atmosphäre machte sich währenddessen breit. Natürlich verbindet eine solche Aktion die Teilnehmer untereinander enorm, aber auch viele der Passanten fühlten sich angesprochen und fragten neugierig nach Sinn und Zweck der Aktion.
Besonders deutlich kam die allgemeine Stimmung am Ende des Balletts zum Ausdruck, als irgendwer anfing zu klatschen und auf einmal ein tosender Applaus - von Teilnehmern UND Passanten gespendet - begleitet von Jubeln und Pfeifen durch den Hauptbahnhof flutete. Wie viele Menschen genau teilgenommen haben, kann wohl keiner genau sagen, dem Geräuschpegel am Ende der Aktion nach müssen es jedoch Hunderte gewesen sein!
Man könnte jetzt bekritteln, dass die als subversiv und verboten gedachten Bewegungen (auf dem Boden sitzen, Hand bettelnd ausstrecken etc.) von den wenigsten Passanten als solche identifiziert werden konnten, dass das Sicherheitspersonal, anstatt alarmiert auf Verbotenes zu reagieren, die ganze Aktion großteils mit freundlichem Verständnis beobachtete, oder dass, aufgrund der Verschleierung der politischen Beweggründe der Aktion (siehe: die Radios sollten nicht laut, sondern über Kopfhörer gehört werden), das Thema dem allgemeinen Passanten nicht zugänglich wurde - letztendlich bleibt die ungeheure Dynamik, die eine Stunde gemeinsamen Radiohörens entfacht hat, und die sich nicht nur im Beifall vor Ort zeigte, sondern ebenso in der darauffolgenden Versammlung vieler Teilnehmer vor der Kunsthalle (von der aus Ligna sendete) sowie und am selben Abend im B-Movie das auch gleich Videomitschnitte des Ereignisses und weitere Filme zum Thema zeigte.
Wenn auch das Publikum des Ligna Radioballetts sicher nicht die gesamte Bandbreite der Hamburger Bevölkerung repräsentierte, sondern sich, wie zu erwarten war, aus Personen der politisch und kulturell engagierten Szenen und Kreise zusammensetzte, ist es meines Erachtens nach dennoch eine beachtliche Leistung der Organisatoren, eine im Vorfeld nicht einzuschätzende Anzahl von Individuen 49 Minuten lang konzentriert in und durch den Hauptbahnhof zu dirigieren - mit einem Effekt, der nicht nur von Außen für viele nach gruppendynamischer Meditation aussah, sondern sich auch ziemlich angenehm danach anfühlte.
[1] Die freie Radiogruppe Ligna wurde 1996 gegründet von den Medientheoretikern und Radiokünstlern Ole Frahm, Michael Hüners und Torsten Michaelsen. Sie gestaltet seitdem die Phone-in-your-favorites-Show Lignas Music Box im FSK. Weiterhin inszeniert sie regelmäßig Radioshows, so u.a. beim Steirischen Herbst 2000 die "Dead Cowboys Radio Show" mit der Theatergruppe Mass und Fieber (Zürich), bei der Ausstellung ein/räumen (Hamburger Kunsthalle) und bei puzzelink_evidenz.4 (August 2001). (Quelle: http://www.artgenda.com/deutsch/programm/projekte/mentalRadio.html)
[2] Urbane Panik hat versucht, mit der Methode der ironischen Überziehung auf die umfassenden Überwachungs- und Kontrollpraxen der Deutschen Bahn mit ihrem "3S-Konzept" aufmerksam zu machen. Als Bürgerinitiative und Sicherheitsdienst verkleidet, zogen wir in den Hamburger Hauptbahnhof, wo wir umstandslos von den echten Sicherheitskräften das Hausrecht übertragen bekamen und nach Lust und Laune kontrollieren, durchsuchen, überwachen und filmen durften. (Quelle: http://mailman.drno.de/pipermail/news/2001-December/000297.html)
Weitere Berichte und Fotos vom Radioballett auf indymedia.
Auf den Seiten von FSK findet sich auch ein kleiner Artikel zum Radioballett: http://www.fsk-hh.org/akt/0206ballet.html