SPACE (Teil 2): Raum und Realität im Wandel der Zeit

Jan Kristian Wiemann, 15.01.02

Die gesamte menschliche Wahrnehmung hat sich im Laufe der Zeit kontinuierlich gewandelt. In diesem Zusammenhang veränderte sich auch - in Abhängigkeit von kulturellen und evolutionären Faktoren - der Begriff der Realität. Walter Benjamin konstatierte zu einem Zeitpunkt, an dem viele technische Neuerungen die Wahrnehmung revidierten, in seiner Abhandlung Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit:

"Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung. Die Art und Weise, in der die menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert - das Medium, in dem sie erfolgt -, ist nicht nur natürlich sondern auch geschichtlich bedingt." [1]

Bei Benjamin erweitert die neue (ästhetische) Technik des Films den unmittelbar physisch wahrnehmbaren Raum um einen vermittelten virtuellen Raum. Man sieht (und hört) etwas, kann es aber nicht anfassen. Ähnliches galt damals auch für das Fernrohr, das Telefon und das Radio und heute für die neuen Bildmedien.

"Wenn sich das Territorium erst durch die neue Technologie der unmittelbaren sinnlichen Erfahrung zu entziehen beginnt, taucht logischerweise die Frage auf, ob die wahrnehmbare Wirklichkeit oder die nicht-wahrnehmbare Wirklichkeit oder die nur distanziert, technisch zugängliche, abstrakt vorstellbare, mathematisch zugängliche Wirklichkeit die wahre Wirklichkeit darstelle." [2]

Wird der Beginn des Kampfes zwischen sinnlich und mathematisch wahrnehmbarer Wirklichkeit von Peter Weibel ins 17. Jahrhundert gelegt, sieht Jonathan Crary im 19. Jahrhundert einen weiteren Einschnitt für die sinnliche Erfahrung in der Trennung von Tast- und Sehsinn und einer damit einhergehenden Autonomisierung des Sehens.

"Die neu entwickelten Techniken der Bildproduktion [werden] zu dominanten Visualisierungsmodellen [...]. Die meisten der historisch gesehen wichtigen Funktionen des menschlichen Auges werden durch Praktiken ersetzt, in denen Bilder (visual images) keinen Bezug mehr zur jeweiligen Position eines Betrachters in der 'wirklichen', optisch wahrnehmbaren Welt haben." [3]

Die Immersion, das Versinken in die Bilder, gewinnt in der kulturellen Entwicklung zunehmend an Bedeutung. Bei William Gibson ist der Cyberspace eine Art kollektives Gedächtnis ("Konsens-Halluzination [...] im Nicht-Raum des Verstandes") [4]. Cyberspace ist ein Teilbereich der Virtuellen Realität, der sich besonders durch die Vernetzung auszeichnet. Sowohl Cyberspace als auch die Virtuelle Realität sind auf Computern basierende Simulationen. Die angeblich immaterielle Virtuelle Realität ist von materiellen Grundlagen (z.B. CPU, HDD, HMD) aber geradezu abhängig.

"Cyberspace is a globally networked, computer-sustained, computer-accessed, and computer-generated, multidimensional, artificial, or 'virtual' reality." [5]

In der VR wird aus einem zweidimensionalen Abbild mindestens ein dreidimensionales und erfahrbares Bild geschaffen. Der französische Medienphilosoph Jean Baudrillard fügt dieser noch eine vierte Dimension hinzu:

"Ein Bild ist immer eine Abstraktion der Welt in zwei Dimensionen. Es entzieht der wirklichen Welt eine Dimension und ermöglicht dadurch die Macht der Illusion. Die Virtualität hingegen zerstört die Illusion, indem sie uns in das Bild 'eintreten' läßt, indem sie ein dreidimensionales, realistisches Bild schafft (und dem Wirklichen sogar eine Art vierte Dimension hinzufügt, um aus ihm das Hyperreale zu machen)." [6]

Der Doppelgänger der VR ermöglicht dem 'Zuschauer' einen Perspektivwechsel vom externen zum internen Betrachter. Man schaut nicht mehr in einen Raum, sondern der symbolische Doppelgänger befindet sich und agiert im (virtuellen) Raum. Die Beziehung zwischen Mensch und Raum ist im virtuellen Raum umgekehrt zum Realraum. Der Virtuelle Raum bewegt und verändert sich abhängig vom Benutzer, der Realraum aber bestimmt die Bewegung des Menschen in dem ihn umgebenden Raum. Jaron Lanier meint, die VR enthalte "die Verheißung einer Überwindung des Körpers". [7] In diesem Zusammenhang sieht Margaret Wertheim auch die Tendenz, den Cyberspace als himmlischen Raum anzunehmen, der "als eine Form elektronischer Res cogitans" [8] einen Raum für immaterielle Aspekte der Menschheit, einen neuen Raum für Geist oder Seele, einen Raum für Einbildungskraft und 'Ich'-Konstruktionen bietet, für die im materialistischen Weltbild durch die Ausdehnung des leeren physikalischen Raums ins Unendliche kein Platz mehr bleibt. Der zur Totalität des Realen erklärte physikalische Raum bestimmt(e) die Vorstellung einer Welt als Realität von vielfältigen und miteinander koexistierenden Ebenen als Einbildung oder Traum.

"Der alte Slogan 'Die Realität geht über die Fiktion hinaus', die dem surrealistischen Stadium dieser Ästhetisierung des Lebens noch entsprach, ist überholt. Es gibt keine Fiktion mehr, der sich das Leben, noch dazu siegreich, entgegenstellen könnte - die gesamte Realität ist zum Spiel der Realität übergegangen." [9]

Baudrillards Hyperrealismus ist die nicht mehr als Simulation wahrgenommene Projektion der imaginatio in den Realraum. Marshall McLuhan hat schon 1964 den vernetzten Raum (eines Cyberspace) beschrieben: "Es ist ein grundlegender Aspekt des Zeitalters der Elektrizität, daß diese ein weltumspannendes Netz aufbaut, das mit unserem Zentralnervensystem viel gemeinsam hat." [10] Da die nach außen verlegte Elektrizität dezentralisiert und überall annähernd gleichzeitig ist, sei, so McLuhan, die einspurige Ausdehnung vom Zentrum zur Peripherie "mit unserer elektrischen Welt nicht mehr zu vereinbaren." [11]

"Wenn man sämtliche mechanischen und energetischen Prothesen als einen Auswuchs des Körpers begreift, wird der Körper selbst zum künstlichen Auswuchs des Menschen und der Mensch zum künstlichen Auswuchs seiner eigenen Prothesen." [12]

Für McLuhan sind die Medien nur Erweiterungen des Körpers. Baudrillard hingegen sieht in den Prothesen Organe, die menschliche Funktionen übernehmen und den Körper verwüsten. Die Verwüstung ist eine Leere, die durch die "ex-zentrische" Anordnung der Prothesen erzeugt wird. Die Funktionen des fraktalen Subjekts finden nicht mehr im Körper statt, sondern in einer Videowelt, einer Simulation.

Das fraktale Subjekt bzw. ein Clone von ihm (Doppelgänger), ist ein Spieler in der Videowelt, i.e. der Virtuellen Realität oder des Cyberspace. Hier findet die Reduplikation des fraktalen Subjekts statt. Das Cerebrale spielt sich auf Bildschirmen ab: "Was die Menschen auf den Bildschirmen ihrer Textverarbeitungssysteme oder ihrer Mikrocomputer erkennen oder zu erkennen glauben, ist nichts anderes als der Prozeß ihres eigenen Gehirns." [13] Videowelt ist digital. Der Prozeß des menschlichen Gehirns geht im binären Code auf, und es kommt nur noch darauf an, an seinen Körper angeschlossen zu sein. "Der Anspruch ist, überall potentiell zu existieren und auf allen Bildschirmen und in allen Programmen präsent zu sein." [14] Diese Präsenz ist immaterieller Natur, denn das geclonte Subjekt existiert - bis auf eine Ausnahme, i.e. der eigentliche Körper - bei Videokonferenzen und auch schon bei Telefonaten nur im virtuellen Raum. Die Unfaßbarkeit des Subjekts beschränkt sich allerdings auf ein Minimum, da Sehen, Hören und bei einigen Teletechnologien auch Fühlen selbst über die größte Distanz möglich sind.

Die immaterielle Umweltkontrolle durch digitale Signale und die dazugehörigen Techniken verwandeln den menschlichen Körper in ein Terminal und den Menschen zu einem interaktiven Wesen - Sender und Empfänger zugleich. Jede mögliche Distanz wird verringert. Die Simulationen sind so überzeugend und umfassend, daß Realität und Fiktion kaum bzw. nicht voneinander zu unterscheiden sind. In der Simulation gibt es keinen Unterschied zwischen der Kopie (keine Imitation) der Realität und einer künstlich erzeugten Realität.

Hyperreal heißt, daß es kein Original mehr gibt, denn das virtuelle Bild (dies kann jede Sekundärinstanz sein) ist "zugleich zu nahe und zu fern". [15] Baudrillard rekurriert hier auf Benjamin, welcher die Aura des Originals "als einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag" [16], definiert. Diese Einmaligkeit ist durch die exakte Verdopplung nicht mehr gegeben. Auch das "Hier und Jetzt des Originals" [17], die den Begriff seiner Echtheit ausmachen, gibt es nicht mehr.

Es zeichnet sich ein Paradigmenwechsel in bezug auf Raum und Realität ab: von einem flachen Abbild der Realität zu einer räumlichen Bildwelt als Realität. Philippe Quéau fragt, ob Virtuelle Räume wirkliche substantielle aktuelle Orte sind oder eher "Nicht-Orte", und kommt zu dem Schluß, daß der Virtuelle Raum kein topos sondern ein tropos ist; das räumliche Konzept des Seins ist zugunsten des Transzendenten aufgegeben:

"Im Virtuellen sind wir nicht da, wo wir sind, wir sind dort, wo wir handeln, wo wir betrachten, da, wo wir denken, wo sich das Objekt unseres Begehrens oder unseres Willens befindet." [18]

Das virtuelle Bild, so Quéau in seinem Artikel Die virtuellen 'Orte', eignet sich "wegen seiner formellen Natur besonders gut zur Repräsentation von mentalen Abstraktionen." [19] Die visualisierten mentalen Abstraktionen unterscheiden sich nicht mehr von Repräsentationen des Realraumes, so daß die verschiedenen Ebenen von Repräsentation und Präsenz ineinander fallen und "die Grenzen zwischen verschiedenen Arten von 'Orten'" [20] verwischen. Da die meisten Physiker und Mathematiker den abstrakten Raum ihrer Modelle als wahr (real) erklären, stellt die berechnete VR die Realität schlechthin dar.

Der von Bernhard Riemann eingeschlagene Weg - Raum durch "reine rechnende Größenbestimmungen" [21] zu definieren, i.e. Punkte durch Messung in Bezug zu einem Koordinatensystem zu setzen - wird in der Matrix des Cyberspace praktisch umgesetzt.

Als Grundlage für räumliche Strukturen der Materie aktualisiert sich die virtuelle (potentielle), unendliche Matrix als Materie und wird im Behältnis des aktuellen Raumes real. Der gesamte Raum ist berechnet, codiert in binäre Operationen. In der virtuellen Realität beobachten wir praktisch die Geburt eines neuen, sich unendlich ausdehnenden Raumes aus dem Nichts. Dieses Nichts ist das Apeiron, der Urstoff, 1 und 0, Sein und Nicht-Sein. Die potentielle Existenz, die Idee von glizz wird als glizz.net im Web zur Realität.

Der Raum war immer noch da; aber er hatte sein Übergewicht verloren. Der Geist war an erster Stelle nicht mit Maßen und räumlichen Beziehungen der Gegenstände zueinander befaßt, sondern mit Sein und Sinn. [22]

[1] Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [1936]; in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I.2: Abhandlungen, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1991, S. 478.

[2] Peter Weibel: Territorium und Technik; in: Philosophien der neuen Technologie, Berlin 1989, S. 87f.

[3] Jonathan Crary: Techniken des Betrachters [1990], Dresden 1996, S. 12.

[4] William Gibson: Neuromancer [1984]; in: Ders.: Die Neuromancer Trilogie, Hamburg 1996, S. 73f.

[5] Michael Benedikt: Cyberspace. Some Proposals; in: Cyberspace - First Steps, ed. by Michael Benedikt, Cambridge, MA 1991, p. 122.

[6] Jean Baudrillard: Illusion, Desillusion, Ästhetik; in: Illusion und Simulation, hg. v. Stefan Iglhaut, Florian Rötzer u. Elisabeth Schweeger, Ostfildern 1995, S. 92.

[7] Jaron Lanier; zit. in Margaret Wertheim: Die Himmelstür zum Cyberspace, Zürich 2000, S. 15.

[8] Wertheim: Die Himmelstür zum Cyberspace, S. 254.

[9] Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod, München 1982, S. 116f.

[10] Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle [1964], Dresden 1994, S. 522f.

[11] McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 66.

[12] Baudrillard: Videowelt und fraktales Subjekt; in Philosophien der neuen Technologie, S. 115.

[13] Baudrillard: Videowelt..., S. 117.

[14] Baudrillard: Videowelt..., S. 124.

[15] Baudrillard: Videowelt..., S. 122.

[16] Benjamin: Das Kunstwerk..., S. 479.

[17] Benjamin: Das Kunstwerk..., S. 476.

[18] Quéau: Die virtuelle Simulation; in: Illusion und Simulation, S. 64.

[19] Quéau: Die virtuellen "Orte", http://www.telepolis.de/deutsch/special/sam/6021/1.html.

[20] Quéau: Die virtuellen "Orte", http://www.telepolis.de/deutsch/special/sam/6021/1.html.

[21] Hermann von Helmholtz: Über den Ursprung und die Bedeutung der geometrischen Axiome [1870]; in: Ders.: Schriften zur Erkenntnistheorie, hg. u. erl. v. Paul Hertz u. Moritz Schlick, Berlin 1921, S. 11.

[22] Aldous Huxley: Die Pforten der Wahrnehmung [1954], München 1992, S. 17f.

Quelle: http://www.glizz.net/artikel/artikel_7.php