Nach Diktat der Leitkultur zur Fiesta der Vielfalt?

Tim Schmalfeldt, 10.12.04

Am 18. Oktober diesen Jahres hielt Frits Bolkestein, der zurzeit noch amtierende EU-Kommissar für die Bereiche Binnenmarkt, Steuern und Zollunion, eine Rede mit dem Titel "Die Notwendigkeit einer Leitkultur" an der Berliner Humboldt-Universität [1]. Darin kritisierte der Niederländer das mangelnde kulturelle Selbstverständnis Deutschlands. Eine Nation wie Deutschland, so Bolkestein, müsse den Vorrang seiner grundlegenden Werte durchsetzen und dürfe nicht zulassen, dass eine "Duldungszone" entstünde, in der "die andere Kultur" ihre eigenen Praktiken fortsetzen könne. Es sind dieselben Schlagwörter, die schon in der ersten Leitkultur-Debatte vor vier Jahren fielen: Kernwerte, Identität, Integration, Eintreten für die eigene Kultur, kulturelle Vielfalt. Kulturelle Vielfalt? Das lässt aufhorchen. Wird Bolkestein aus den Reihen globalisierungskritischer AktivistInnen doch jüngst gerade dafür kritisiert, mit einem von ihm vorgelegten Entwurf im EU-Binnenmarkt auch den Kultursektor vollständig liberalisieren zu wollen und damit der von ihm so beschworenen kulturellen Vielfalt großen Schaden zuzufügen. Derzeit gibt es mehrere Attac-Sektionen, aber auch Gewerkschaften und Sozialforen, die zu diesem Thema im Anschluss an die breit angelegten "Stoppt GATS!"-Kampagnen arbeiten [2]. Betrachtet man diese Diskussion nicht aus der Perspektive des "wer gegen wen", sondern fragt nach dem "wie", so fällt auf, dass sich die Definition dessen, was in beiden Lagern mit dem Begriff kulturelle Vielfalt bezeichnet wird, kaum voneinander unterscheidet. Im Gegenteil. Es herrscht noch immer große Einigkeit darüber, dass Kulturen notwendigerweise in sich geschlossen und national bestimmt sind.

Zwar hat sich die globalisierungskritische Protestbewegung seinerzeit auf die Fahnen geschrieben, transnational zu agieren und grenzüberschreitend formulierte Forderungen zu stellen. In weiten Teilen der AltermondialistInnen scheint das Argument der nationalen Identität jedoch noch immer als einzig probate Antwort auf das vermutete Problem einer kulturellen Konvergenz betrachtet zu werden. Ein drohender Verlust der kulturellen Vielfalt könne demnach nur mit einer Protektion und Stärkung lokaler wie nationaler Identitäten verhindert werden. Problematisch wird solch eine essentialistische Strategie nicht erst dann, wenn sie in die oben skizzierte meta-rassistische Argumentation mündet, die biologisch determinierte Differenzen zwischen verschiedenen Menschengruppen zwar zurückweist, sich aber gleichzeitig auf eine Unaufhebbarkeit kulturell bestimmter Unterschiede beruft. Überdies verkennen die BefürworterInnen einer solchen Argumentation, dass eine Auffassung von kultureller Vielfalt, die an die territoriale Einheit einer Nation oder Region gebunden bleibt, in scharfem Kontrast zur Auffassung von Kultur als öffentlichem Gut und zum öffentlichen Zugang ebenso wie zu Entwicklung aktiverer Öffentlichkeiten steht [3].

Statt um neue Öffentlichkeitskonzepte drehen sich die Diskussionen um kulturelle Vielfalt heute zumeist um das Instrument der "exception culturelle", in dem globalisierungskritische AktivistInnen wie KünstlerInnen das Allheilmittel im Kampf um Diversität sehen. So ist es nicht verwunderlich, dass im Zuge dieser Auseinandersetzungen auch der Diskurs über eine deutsche Popquote weiter geschrieben wird und selbsternannte MissionarInnen einer "deutschen Popidentität" lauter und mit einer breiteren Basis denn je den Verlust "ihres" geistigen Erbes befürchten. Müßig, den kleinbürgerlichen Charakter dieser Form zu denunzieren. Umso wichtiger jedoch, zu betonen, dass das Argument der kulturellen Ausnahme in Frankreich heute auch für die Durchsetzung neoliberaler Maßnahmen im Kulturbereich instrumentalisiert wird, mit gravierenden Benachteiligungen für KulturproduzentInnen, die mehr und mehr in Ungewissheit oder Unsicherheit leben. Institutionen, die die "exception culturelle" abzusichern haben, unterliegen längst nicht mehr kollektiven, sondern, wie Christophe D'Hallivillée, Brian Holmes und Maurizio Lazzarato in ihrem Arbeitspapier "Pour une culture sans exception" [4] formulieren, zunehmend individualisierten Rechten und bereiten damit dem langen Prozess der Demokratisierung der Kultur ein Ende: "L'exception de la culture confirme la règle de la flexibilisation du travail et de la marchandisation de toutes les productions humaines" [5].

Der ständige Rekurs auf den Zusammenhang von Kultur und nationaler Identität, sei es auf Seiten offizieller Stellen, sei es in ihren vermeintlichen Gegenlagern, macht einmal mehr deutlich, dass sich ein deutlicher Spalt auftut zwischen aktuellen kulturtheoretischen Konzepten, in denen ein Begriff von Originalität als unberührt bleibender authentischer Kern einer Kultur mehr und mehr als unannehmbar erachtet wird, und ihrer politischen Umsetzung. Statt Grenzen als Orte der Resignifikation und transkulturellen Übersetzung zu betrachten, entspricht das Gros der kulturpolitischen Argumentation zumeist noch der Lévi-Strausschen Auffassung von der "Schädlichkeit jeder Grenzverwischung" [6], wird Kultur weiterhin als "unsere Kultur" im Sinne eines autonomen und homogenen Gebildes aufgefasst. Forderungen nach einer rigorosen Migrationspolitik lassen sich damit ebenso gut vereinbaren wie Gemeinplätze von der "Kultur an sich", die Identität konstituieren und den Menschen Frieden und Harmonie bringen soll, aber nicht um den Preis eines Glaubens an die Ausnahmestellung des Eigenen.

Diese Konzeption von Vielfalt entwickelt sich auch in den Diskussionen um die "Konvention zum Schutz der Vielfalt kultureller Inhalte und künstlerischer Ausdrucksformen" [7], die es Staaten ermöglichen soll, im Rahmen einer eigenständigen nationalen Kulturpolitik Maßnahmen zu setzen, mit denen die Herstellung und Verbreitung vielfältiger kultureller Güter und Dienstleistungen gefördert werden kann, zu einer wichtigen Erklärungsschablone. Vom 20. bis 24. September 2004 fand in Paris eine erste Verhandlungsrunde von RegierungsexpertInnen zu der UNESCO-Konvention statt. Da die EU-Kommission in dieser Konvention Politikfelder und Kompetenzbereiche tangiert sah, die in ihre Zuständigkeit fallen, drang sie darauf, von den Mitgliedsstaaten das Mandat für diese Verhandlungen auf globaler Ebene übertragen zu bekommen. In kürzlich publik gewordenen Statements kritisieren der Österreichische [8] und der Deutsche Kulturrat [9], dass Kunst und Kultur damit endgültig dem "Gutdünken der Brüsseler Bürokraten" unterworfen würden. Tatsächlich ist die EU-Kommission weit davon entfernt, mit einer progressiven Kulturpolitik, die kritische Öffentlichkeiten unterstützt, in Verbindung gebracht zu werden. Ob dies den erwähnten Kulturräten beschieden werden kann, bleibt jedoch ebenso anzuzweifeln. Auf der Basis eines zwanghaft engen Verständnisses des "Prinzips der Subsidiarität" vermeidet zumindest der Deutsche Kulturrat bis heute jede Erwähnung möglicher europäischer Kulturpolitiken.

Dies kann am Beispiel seiner Sprecher verdeutlicht werden, die sich schon in den Auseinandersetzungen über das WTO-Abkommen GATS (General Agreement on Trade in Services) zu wichtigen "Mahnern" vor den Auswirkungen der Dienstleitungsrichtlinien auf den Kulturbereich aufgeschwungen haben. Geschäftsführer Olaf Zimmermann malt in Interviews immer wieder den "Frontalangriff auf die kulturelle Vielfalt" an die Wand, was ihm bisher neben einer Allianz mit dem Netzwerk Attac, deren deutsche Sektion auf ihrer Website gänzlich auf ein eigenes Statement zum Thema "GATS und Kultur" verzichtet, dort lediglich auf eine Pressemitteilung des Kulturrates verweist und dessen Deutungsangebot mit dem Hinweis: "Neben vielen Anderen sieht auch der Deutsche Kulturrat in den derzeitigen GATS-Verhandlungen eine Bedrohung für die deutsche Kulturindustrie" versieht [10], auch zweifelhaften Ruhm in Publikationen der Neuen Rechten einbrachte [11]. Sowohl Zimmermann als auch der Kulturratsvorsitzende Max Fuchs legitimieren den Schutz der "eigenen" Kulturindustrie durch einen Bezug auf das "andere Opfer". Hier ein Zitat aus Fuchs' "Tagebuch" anlässlich der 5. WTO-Ministerkonferenz in Cancún (Mexiko):

"Es hätte keine bessere Wahl als Cancún gegeben, wenn man bewusst die Folgen einer ökonomischen Globalisierung auf Kultur und Information hätte zeigen wollen: Es gibt keine Zeitungen vor Ort mit Ausnahme des Miami Herald - Cancún Edition. Und die ist so, wie man US-Zeitungen kennt: Europa, Afrika und Asien finden kaum statt. Der einzige englischsprachige Fernsehsender, der zu empfangen ist, ist CNN, allerdings nicht die europäische Version, sondern eine amerikanische Version[…]. Wer sich in Deutschland noch länger dagegen wehrt, dass eine ungebremste kulturelle Globalisierung eine Homogenisierung und ein Einpendeln der Kultur auf US-Standards bedeutet, sollte mal hierhin kommen." [12]

Ähnlich argumentiert Fritz Pleitgen, Vorsitzender der ARD und zusammen mit Fuchs einer der UnterzeichnerInnen der "Erklärung von Cancún zur kulturellen Vielfalt", wenn er von einer "kulturellen Ausblutung" in Entwicklungsländern spricht, die "Züge eines Genozids" angenommen habe [13]. Die Sicherung kultureller Vielfalt wird dabei augenscheinlich aus der Perspektive eines "Opfers" eingeklagt, ohne dass dieses zum Sprechen käme. Kulturelle Vielfalt wird definiert über das Opfer, das die "anderen" bringen. Ausgeblendet wird, inwieweit diese vom hegemonialen "Eigenen" kolonisiert, ausgeschlossen und marginalisiert werden. Wie die Ausdrücke des "Frontalangriffs" oder auch der "Vergewaltigung der Kultur", die Zimmermann in einem Interview mit der Berliner Zeitung verwendet [14], versucht Pleitgen, die Perspektive des Opfers mit der Rede vom "kulturellen Genozid" diskursiv zu besetzen und sich auf diese Weise von einem Täter abzugrenzen. Ihr Gebrauch soll im Diskurs Anteilnahme und Zustimmungsbereitschaft abrufen - niemand kann öffentlich von sich behaupten, ein Genozid interessiere ihn nicht. Die Verwendung der Kategorie des "kulturellen Genozids" spricht somit an erster Stelle TrägerInnen des "eigenen" politischen Diskurses an und soll diese unter Rechtfertigungs- und Begründungszwang setzen. Fehlentwicklungen, die anderorts identifiziert wurden, werden so präventiv auf die eigene Gegenwart projiziert und gleichzeitig zukünftigen Erwartungen und Spekulationen gegenüberstellt. Den Prämissen der "Kulturverträglichkeit" oder des "kulturellen Monitorings" [15] folgend, geht es somit weniger darum, zu fragen, wie ein solcher "kultureller Genozid" - nehmen wir für einen Moment an, es handele sich hierbei um ein reales Phänomen - entsteht, sondern vielmehr darum, auf eine vermeintliche und doch immer schon erkannte Gefahr "rechtzeitig" mit dem Schutz der eigenen Kultur zu antworten [16].

Angesichts von Entwicklungen wie diesen, wird es mit Blick auf eine zukünftige Globalisierungskritik notwendig sein, die Grundlagen, auf denen "andere Kulturen" konstruiert werden, weiterhin tief greifend zu hinterfragen, statt blindlings Formeln wie "Eine andere Kultur ist möglich" [17] zu beschwören. Dies bedeutet auch, sich einer Kritik des Konzeptes der kulturellen Vielfalt zu stellen: So könnte gefragt werden, inwieweit dualistische Auffassungen von kultureller Vielfalt, die das "Eigene" von den "anderen Opfern" trennen, die Bedeutung dessen, was sie beschreiben, erst produzieren und wie sie immer zugleich eine Verwerfung von Vielfalt zugunsten der "eigenen" Norm und des Verdrängens von Differenzen mit sich führen. Auch der eigene Blick auf Vielfalt ist nur einer unter vielen. Texte wie Fuchs "Cancún-Tagebuch" machen dies mehr als deutlich. Es endet mit den Worten: "In Cancún stehen heute erst einmal andere Feierlichkeiten an: Mexikos Unabhängigkeitstag wird mit bunten Fahnen, kunstvollen Papageien aus Papier, viel Musik, viel Essen und sicher auch genug Tequila begangen. ENDE. P.S. Nach Diktat zur Fiesta. Si, señor!".

[1] Bolkestein, Frits: Die Notwendigkeit einer Leitkultur, http://www.eu-kommission.de/pdf/reden/
Bolkestein_Humboldt_Universitaet_18-10-04.pdf

[2] Attac: Stoppt den Bolkestein-Hammer!, http://www.attac.de/gats/

[3] Kaufmann, Therese und Raunig, Gerald: Europäische Kulturpolitiken vorausdenken, http://www.eipcp.net/policies/text/anticipating_de.pdf

[4] D'Hallivillée, Christophe, Holmes, Brian und Lazzarato, Maurizio: Pour une culture sans exception, http://multitudes.samizdat.net/article.php3?id_article=1221

[5] "Die Ausnahme der Kultur bestätigt die Regel der Flexibilisierung der Arbeit und der Vermarktung allen menschlichen Schaffens", Übersetzung T.S.

[6] Lévi-Strauss, Claude (1993) [1971]: Rasse und Kultur, in: Ders.: Der Blick aus der Ferne. Frankfurt am Main, S. 21-52

[7] vgl. Metze-Mangold (2004), Verena: Zur Begleitung der Entstehung einer UNESCO-Konvention zur kulturellen Vielfalt. Arbeitspapiere des Instituts für Rundfunkökonomie an der Universität zu Köln, H. 192 (2004), http://www.rundfunkoekonomie.uni-koeln.de

[8] Kulturrat Österreich: Kein Verhandlungsmandat für die EU-Kommission zur UNESCO-Konvention! Kunst darf nicht zu einer Ware oder Dienstleistung degradiert werden! http://www.filmschaffende.at/pressetext.htm

[9] Deutscher Kulturrat: Schlüssel zum Schutz der kulturellen Vielfalt liegt nicht in Brüssel sondern in Berlin http://kulturrat.de/publik/presse23-09-04.htm

[10] Attac: GATS und Kultur, http://www.attac.de/gats/hintergrund/kultur.php

[11] Neujahr, Doris: Frontalangriff auf die kulturelle Vielfalt, in: Junge Freiheit, 18.04.03

[12] Fuchs, Max: Cancún-Tagebuch, http://www.kulturrat.de/aktion/cancun-tagebuch.htm (17.11.04)

[13] Pleitgen, Fritz, zit. n.: Leytz, Wolfram: Zu verkaufen: Kunst und Kultur?, http://www.tagesschau.de/aktuell/meldungen/0,1185,OID2250250,00.html

[14] Zimmermann, Olaf, zit. n.: Walter, Birgit: Unerotische Verhandlungen, in: Berliner Zeitung, 04.04.03

[15] Smiers, Joost (2004): Artistic Expression in a Corporate World. Do we need monopolistic control?, Utrecht, S. 83

[16] vgl. Krasmann, Susanne (2004): Monitoring, in: Dies., Bröckling, Ulrich und Lemke, Thomas (Hg.): Ein Glossar der Gegenwart, in: Leviathan, H. 2 (2004), S. 291-296

[17] Motto des globalisierungskritischen Netzwerkes Kulturattac, http://www.kulturattac.de

Filesharing mit kulturrisse (www.igkultur.at)

Quelle: http://www.glizz.net/artikel/artikel_40.php