Kultur als eine Massenvernichtungswaffe?

Wanda Wieczorek, 22.11.04

Eigentlich lautete der Titel des Seminars zum Verhältnis von Kultur und der sozialen Protestbewegungen ein wenig anders: culture as a weapon of mass construction. Der hübsche Übersetzungsfehler sorgte für einige Heiterkeit unter den deutschsprachigen TeilnehmerInnen des Europäischen Sozialforums (ESF), das vom 14. bis 17. Oktober 2004 in London stattfand. Für London, das dritte ESF nach Florenz 2002 und Paris 2003, stand an, sich der Kultur umfassender zu widmen als zuvor geschehen. Zumindest wünschten und planten das eine Handvoll Kulturproduzenten, die sich in der Vorbereitung und Durchführung des ESF für die Integration von kulturellen Beiträgen stark machten. Zusätzlich zu deren bisher eher einseitigen Präsenz als Unterhaltungs- und Rahmenprogramm sollte es in London jedoch gelingen, „Fragen von Kulturschaffenden als ‚ProduzentInnen’ auf die Agenda der ‚Alterglobalisierungsbewegung’ zu setzen“, und „die Reflexion über Kulturpolitik und -theorie wesentlich im politischen Programm des ESF zu verankern“, so der Aufruf der Vorbereitungsgruppe. Letztendlich gelang es, immerhin ein Seminar mit über dreihundert TeilnehmerInnen und eine Reihe von Workshops zu realisieren, die sich diesem bisher unterrepräsentierten Themenkomplex näherten.

Die unbeabsichtigte Neufassung und Verdopplung des Seminartitels liest sich wie ein ironischer Kommentar einerseits auf den ungeübten Umgang der ESF Organisatoren mit Diskursen zeitgenössischer Kunst und Kultur, andererseits auf die enorme Vielfalt der Hintergründe und Ausgangspositionen der TeilnehmerInnen der „Kultur-Diskussionen“. Letzteres zeigte sich unter anderem in einem Workshop mit dem denkbar weit gefassten Titel politics in contemporary art and culture: Die Seminarleitung tauchte nicht auf und überließ etwa vierzig diskussionswillige TeilnehmerInnen sich selbst und ihren Ideen und Fragen. Diese ergriffen die Gelegenheit zu einer undogmatischen Debatte grundsätzlicher Facetten des Zusammenhangs von Kunst und Politik. Die klassische „Form-Inhalt“ Frage, bei der die einen aktivistische Kunstformen stark machten, andere eher den jeder (auch klassischen) Kunstform inhärenten politischen Aspekt verteidigten, wurde ebenso berührt wie der „Bewegung-Kunst“ Komplex, in dem einerseits auf die Gefahr der Instrumentalisierung politischer Kämpfe durch Kunst und ihre Institutionen (im Sinne eines radical chic) hingewiesen, andererseits die Borniertheit des breiteren Kunstfelds in Bezug auf die zeitgenössischen sozialen Bewegungen beklagt wurde. Auch die „Mainstream-Subkultur“ Debatte kam zur Sprache, bei der unterschiedliche Einschätzungen des Potentials von subversiven Strategien (Street Art etc.) bzw. der Problematik ihrer Vereinnahmung durch Werbung und Mainstreamkultur bestanden. Gegensätzliche Meinungen hin oder her – es gelang der sich erstmalig begegnenden TeilnehmerInnenschaft, aus der Diskussion die Begriffe Kontext, Publikum und Produktionsverhältnisse als Rahmenbedingungen „politischer Kunst“ zu extrahieren und sich vorläufig auf die vertiefte Bearbeitung deren Teilaspekte entlang dieser Begriffe zu einigen.

Eines ließ die Debatte über Kunst und Politik unmissverständlich klar werden: „Kunst und Kultur auf dem ESF“ ist zunächst das, was Menschen dort hin tragen und zur Geltung bringen wollen. Sei es das Bedürfnis, durch kulturelle Gemeinwesenarbeit lokalpolitische Anliegen zu befördern, durch kreative Betätigung individuelle emanzipative Bestrebungen zu unterstützen, oder sich theoretisch den Verhältnissen von Ästhetik und Politik zu widmen. Ein exklusiver Kunstbegriff im Sinne einer Definition dessen, was auf dem ESF als Kunst und Kultur vertreten sein und verhandelt werden soll, ist völlig fehl am Platz. Trotz der heterogenen Positionen der TeilnehmerInnen waren zwei grundlegende Annahmen den Diskutanten gemein: Die Anerkennung der zentralen Rolle der kulturellen Sphäre in der Herstellung und Reproduktion heutiger (neoliberaler) kapitalistischer Ordnung und der Wille, dennoch und mit diesem Wissen Kunst und Kultur als Instrumente und Multiplikatoren des Widerstands gegen jene Ordnung zu schärfen und einzusetzen. Dass auf dem Londoner ESF ein Schritt zur Verbindung der sozialen mit den künstlerischen Bewegungen getan wurde, entsprach dem Bedürfnis der TeilnehmerInnen nach kollektiver Aktion, nach stärkender Vernetzung und organisatorischen Optionen. Daher ist es sehr zu begrüßen, dass die Bildung eines europäischen Netzwerks der Kulturschaffenden in Gang gekommen ist. Dank der Initiative der „Kulturgruppe“, der neben individuellen Akteuren u.a. Mitglieder von movement of the imagination London, Kulturattac Deutschland, FM-Arts London angehörten, wurden die Veranstaltungen realisiert, die sich diskursiv mit Kultur auf dem ESF befassen. In deren Verlauf sammelten sich Emailadressen für eine Mailingliste an, die Individuen und Gruppen in der Bearbeitung dieser Fragen vernetzen kann. Und mit einem Statement auf dem ESF Abschlussplenum, der Assembly of Social Movements wurde den versammelten „Bewegungen“ signalisiert, dass Kultur im gemeinsamen Anliegen, dem Kampf um eine „andere Welt“, eine wichtige Rolle spielen muss – und wird.

„die Bewegung erziehen“

Die Realisierung dieses Anspruchs wird einige Arbeit erfordern, nicht zuletzt an den Sozialforumsbewegungen selbst. Notwendig ist, dass Kultur innerhalb des ESF Diskurses sichtbarer wird: Diskussionen zu kunsttheoretischen und kulturpolitischen Fragestellungen sind in diesem Kontext ebenso angebracht wie „klassische“ politische Themenachsen. Daher darf es nicht sein, dass Kulturveranstaltungen im Programm fein säuberlich von „richtigen Politikveranstaltungen“ getrennt werden – einer der häufigsten Kritikpunkte an der Londoner ESF-Organisation. Ebenso gilt es, die Komplexität der auf dem ESF vertretenen Kunst zu erhöhen – Konzerte, Straßentheater und Bilder an Bauzäunen allein reichen nicht aus, wenn Kunst über unterhaltende und mobilisierende Funktionen hinaus wirken soll. In der historischen wie aktuellen Kunstproduktion finden sich genügend Beispiele souveräner Beiträge zur politischen Debatte, die zudem geeignet sind, das in Teilen der sozialen Bewegungen offensichtlich vorherrschende traditionelle Verständnis von künstlerischen Formen und Funktionen zu aktualisieren. Künstlerische Verfahren können zur Entwicklung des Sozialforumsprozesses auf organisatorischer wie auch auf inhaltlicher Ebene positiv beitragen (und nicht zuletzt auf ästhetischer Ebene, angesichts der alles dominierenden Flugblatt- und Demoplakat-Ästhetik). Mit der flapsigen Wendung „die Bewegung erziehen“ brachten die KulturteilnehmerInnen die Forderung zum Ausdruck, dass die spezifische Qualität der Kultur von Seiten des ESF als struktureller Bestandteil des Prozesses anerkannt wird – aber sie muss von Kunst und Kultur auch eingebracht werden.

„die Kunst erziehen“

Die „Lobby“ der Kulturschaffenden auf dem ESF hat im Moment noch nicht die nötige Stärke, um sowohl zeitgenössische Diskussionen, Kunstformen und Rezeptionsarten in die Sozialforumsbewegungen einzubringen als auch eine tatsächlich strukturelle Verankerung der Kultur in der inhaltlichen und organisatorischen Gestaltung des ESF zu realisieren. Das nun im Entstehen begriffene Netzwerk der Kulturschaffenden kann als Kommunikations- und Organisationswerkzeug immerhin die Entwicklung einer Agenda der Kulturschaffenden im Hinblick auf die kommenden nationalen Sozialforen und das nächste ESF in Athen im Frühjahr 2006 unterstützen. Ebenso notwendig ist es jedoch, mit dieser Vernetzung weitaus mehr Akteure aus Kunst und Kultur in die sozialen Bewegungen zu involvieren als es bisher der Fall ist. Es mangelt nicht an engagierten Künstlern, kritischen Institutionen oder theoretischen Konzeptionen von Kunst und Politik. Aber sie mangeln in der Bewegung, die zur Zeit als einzige in der Lage scheint, eine politisch relevante Breite zu erreichen. Wittert man die Gefahr einer Instrumentalisierung der Kunst durch Politik, liegt der Verdacht der Abschöpfung von Distinktionsgewinnen zu nahe, oder ist diese Form der Kollektivierung schlicht zu anstrengend, zu massenhaft, zu wenig attraktiv? Wie auch immer – die mit Mitteln von Kunst und Kultur umgesetzte Kritik der bestehenden Verhältnisse in den Kontext der sozialen Bewegungen zu stellen bedeutet doch letztendlich nur, die eigenen Anliegen und die eigene Arbeit tatsächlich ernst zu nehmen.

Filesharing mit kulturrisse (www.igkultur.at)

Quelle: http://www.glizz.net/artikel/artikel_39.php