... weil ich denke, dass dieses Bild eine Geschichte in sich birgt...

Wanda Wieczorek, 26.11.03

"Bruder, unbekannter Bruder, Bruder, du bist nicht allein. Mit der Arbeit meiner Hände steh ich für dich ein." So lautet die erste Zeile eines Liedes, das Jungpioniere der DDR noch in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts sangen. Ein ganzer Kosmos von Idealen der Solidarität, der Internationalität und gemeinsamen Arbeit im Dienst des Sozialismus verbindet sich damit. Diese Zeile inspirierte die Kunsthistorikerin Christiane Mennicke, seit April dieses Jahres Leiterin des Kunsthaus Dresden, für den Titel der Ausstellung Unbekannte Schwester, unbekannter Bruder, die am vergangenen Samstag, den 21. November, im Kunsthaus eröffnet wurde und dort bis Mitte Januar zu sehen ist. Die Schau versammelt zehn zeitgenössische künstlerische Positionen, die eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Ikonografien und Traditionen sozialistischer Kunst sichtbar machen. Jenseits der im Moment verstärkt geführten deutsch-deutschen Auseinandersetzung um das ästhetische Erbe des Sozialismus (beispielweise in der Berliner Ausstellung Kunst in der DDR in der Neuen Nationalgalerie) wird mit der Auswahl ein internationales Spektrum eröffnet, das den Blick auf Bildwelten verschiedener historischer Zeitpunkte und geographischer Orte lenkt. Dabei verschränken sich die Beispiele aus u.a. Indonesien und Mexiko mit denen aus Deutschland in einer Weise, die es ermöglicht, internationale Bildsprache und heterogene historische Erfahrungen mit der eigenen Geschichte in Verbindung zu bringen und daraus ein produktives Verhältnis auch zur jüngeren deutschen Vergangenheit zu beziehen.

Eine zeitliche Klammer spannt die Videoinstallation Rückblick/ Re-Viewing der in Dresden lebenden Janet Grau auf. 30 EinwohnerInnen Dresdens beschreiben vor der Kamera Gemälde aus der DDR und überführen die damals vorherrschende Bildsprache in das eigene zeitgenössische Vokabular. An Stelle einer Debatte über den Wert sozialistischer Kunst tritt die sehr persönliche Begegnung mit historischen Werken, über die zahlreiche Erinnerungen, aber auch Gefühle der Gegenwart wachgerufen werden.
Die KünstlerInnengruppe Taring Padi aus Indonesien befasst sich dagegen mit aktuellen politischen Ereignissen seit dem Sturz der Militärdiktatur 1997. In Dresden sind Poster aus Anti-Gewalt-Kampagnen zu sehen, die die Gruppe gemeinsam mit NGOs und zivilen Gruppen durchführt. In den Drucken vermischen sich traditionelle indonesische mit typischen sozialistischen Darstellungsweisen, etwa wenn der gemeinsame Kampf von Arbeitern und Bauern gegen die Machthaber aus Politik, Militär und Wirtschaft propagiert wird.
Lucy McKenzie aus Schottland bezieht sich in der Werkgruppe Global Joy; von 2001 auf das Wandfries von Walter Womacka am Haus des Lehrers in Berlin. Sie übernimmt die figürliche Bildsprache Womackas, aber führt in die Darstellung des "sozialistischen Alltags" Figuren und Motive ein, die mit einer Stilisierung der historischen Bildsprache brechen. Global Joy öffnet den Blick auf eine der möglichen Adaptionen des ästhetischen Erbes, auf die Funktionslogik pop- und subkultureller Bildwelten der Gegenwart.

Ein weiteres Beispiel für eine solchermaßen komplexe Bearbeitung des Themas ist die Installation Sala de Arte Publico Siqueiros der Hamburger Künstlerin und Filmemacherin Margit Czenki. Im Vorfeld der Ausstellung besuchte die Künstlerin den Sala, das ehemalige Wohnhaus des berühmten mexikanischen Wandmalers und Aktivisten David Alfaro Siqueiros in Mexiko-Stadt. 1969 wurde das Haus der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, war nach dem Tod Siqueiros' 1975 unter der Leitung seiner Ehefrau Angelica Arenal lange Jahre Treffpunkt der lateinamerikanischen Linken und beherbergt heute das Archiv Siqueiros' sowie einen neuen Ausstellungsraum für zeitgenössische Kunst. Drei junge Kuratorinnen arbeiten dort mit dem schwierigen Erbe des widerspenstigen Künstlers und lange Zeit bekennenden Stalinisten, dessen politisch nach wie vor brisante Wandmalereien die mexikanische Verwaltung heute vor der Öffentlichkeit versteckt.

In Dresden projiziert Margit Czenki die Arbeitsweise der Kuratorinnen des Sala in die Räume des Kunsthaus: Eine aufwändige Wandmalerei im Stile der von Siqueiros' entwickelten Technik der polyangularen Malerei füllt den gesamten Raum. Entlang der Wände erzählt eine Fülle von Fotos, Bildern, Textdokumenten und Filmmaterial aus dem Leben und Werk des Malers, nähert sich seiner aktiven politischen Identifikation mit dem nachrevolutionären mexikanischen Staat an, folgt ihm in die Inhaftierung durch die Regierung eben dieses Staats, dokumentiert seine ungebremste Schaffenskraft selbst im Gefängnis und die Miteinbeziehungen der "Genossen Mitinhaftierten". Aus dieser Zeit stammende Solidaritätspostkarten von Grundschulen in Dresden, die Czenki im Archiv des Sala fand, stellen überraschend eine Verbindung zwischen dem Maler und der Stadt an der Elbe her.

Mit einer einseitigen Konzentration auf die beeindruckende theoretische und widersprüchliche politische Arbeit Siqueiros bricht Czenki durch das Augenmerk auf die innovative Praxis der Kuratorinnen Itala Schmelz, Pilar Villela und Margara Laborde. Das etwa einstündige Video This house has a lot of story veranschaulicht in Interviews, wie sich im Umgang mit der monströsen Ästhetik Siqueiros' neue Perspektiven aus der verdrängten Vergangenheit der politischen Kunst entwickeln lassen. Neben der Archivarbeit öffnen die Frauen das Haus für die zeitgenössische mexikanische Kunst, realisieren Ausstellungen von KünstlerInnen, die mit Siqueiros gearbeitet haben, und führen Symposien über öffentliche und politische Kunst durch. Auf diese Weise fügen sie dem Werk Siqueiros' ihre eigene Geschichte hinzu und aktualisieren seine Arbeit für die heutige Zeit. Dies ereignet sich in Czenkis Installation auch für Dresden, etwa mit der Fotoserie von Siqueiros' Besuch des Mosaiks am Kulturpalast - damals voll Stolz vorgeführt, verbirgt heute ein Baustellen-Netz die dargestellten Figuren auf dem Weg zum Kommunismus nicht unähnlich dem heutigen Umgang Mexikos mit den Werken des ehemals gefeierten Siqueiros. In Czenkis Arbeit wird deutlich, wie Bildwelten des Sozialismus Bedeutungsveränderungen durchlaufen, aber auch, wie ihre Aktualisierung gelingen und der Umgang mit ihnen unter veränderten Gesichtspunkten fruchtbar werden kann.

Die Öffnung zeitlicher und geographischer Klammern und die Fähigkeit, diese mit persönlicher Erfahrung in Verbindung zu bringen, macht eine besondere Stärke der Dresdner Ausstellung aus. Auf feinfühlige und komplexe Weise nähern sich die ausgestellten Positionen dem Erbe der sozialistischen Kunst in einer Zeit, die erst langsam die Zurückweisung aller ästhetischer Zeugnisse der ehemaligen sozialistischen Staaten zu überwinden beginnt. Nach Jahren der Destruktion und Ablehnung scheint im Kunsthaus Dresden die Möglichkeit auf, wie ein behutsamer und produktiver Umgang mit diesem Erbe angegangen werden kann.

Noch bis Mitte Januar sind die meist eigens für das Kunsthaus produzierten Arbeiten zu sehen, ab 22. Januar 04 ergänzt durch einen zweiten Ausstellungsteil mit weiteren internationalen KünstlerInnen (Gesamtlaufzeit bis 29. Februar 04).

Unbekannte Schwester, unbekannter Bruder I
mit Margit Czenki (Hamburg), Janet Grau (Dresden), Lucy McKenzie (Glasgow), Ulrike Kuschel (Berlin), Olaf Nicolai (Berlin), Paulina Olowska (Warschau), Marion von Osten (Zürich/Berlin), Taring Padi (Yogyakarta), Florian Zeyfang (Berlin), Theoretisches Fernsehen (Berlin)
kuratiert von Christiane Mennicke

Kunsthaus Dresden (Städtische Galerie für Gegenwartskunst)
Rähnitzgasse 8, 01097 Dresden
www.kunst-haus-dresden.de

Der Titel dieses Textes ist ein Teil des Zitats "... weil ich denke, dass dieses Bild eine Geschichte in sich birgt, auch eine Geschichte, die man vielleicht ähnlich erfahren hat..." aus einem Interview in der Arbeit von Janet Grau: Rückblick/ Re-Viewing, 2003

Quelle: http://www.glizz.net/artikel/artikel_32.php